Täuschung – Geli Ammann – Kurzgeschichte
Ihr war langweilig. Sie schaute aus dem Fenster, dunkle Regenwolken verdüsterten ihre Stimmung zusätzlich. Als Hausfrau hatte sie wenig zu tun, die Kinder waren lange aus dem Haus und ihr Mann erschien nur zu den Mahlzeiten. Ihr blieb das Internet. Am Küchentisch sitzend klappte sie das Laptop auf. Sie hatte sich in verschiedenen Foren angemeldet, surfte stundenlang herum, ohne eine Befriedigung zu empfinden. Ihre Internetfreunde erzählten interessante Begebenheiten aus ihrem Alltag oder ihrem Berufsleben. Sie selbst hatte wenig vorzuweisen. Ein Realschulabschluss, eine Ausbildung zur Kaufmännischen Angestellten. Erfüllung fand sie in ihren Kindern, die ihr das Gefühl von Nähe und Liebe gaben. Den Haushalt versorgen, kochen und die Kinder erziehen war Berufung genug. Die Möglichkeit, wieder in den Beruf zu gehen, hatte sie verpasst.
Abitur und Studium fehlen, dachte sie, ich hätte was vorzuweisen. Sie klickte die Profile ihrer Freunde durch und auf einmal hatte sie eine Idee.
Niemand kennt mich wirklich, überlegte sie. Ich kann mich neu anmelden, mein Profil so gestalten, wie ich es möchte. Voller Eifer legte sie sich mehrere neue Mailadressen zu. Sie wusste, dass sie nicht einfach Fotos aus dem Netz nehmen konnte. Bei einem Plausch am Gartenzaun erzählte ihre Nachbarin von einem Artikel einer Frauenzeitschrift. Eine Frau benutze fremde Fotos und die Abmahnung erfolgte prompt. Ihr fielen die alten Alben ein, die sie auf dem Flohmarkt vor einigen Monaten erstand. In anderen Leben rumzustöbern, wie ein Voyeur durchs Schlüsselloch zu schauen, gab ihr einen besonderen Kick.
Ein Anfang war gemacht.
Die Frau sah ihr ähnlich, das Bild sehr verschwommen und mindestens 30 Jahre alt. Sie feilte lange an ihrer Vita und meldete sich mit klopfendem Herzen in dem ihr bekannten sozialen Netzwerk an.
Ariane, 25 Jahre alt – Juristin
Sofort bekam sie Einladungen für Gruppen oder wurde einfach hinzugefügt. Freundschaftsanfragen nahm sie bedenkenlos an. Es kamen Anfragen zu juristischen Problemen, mancher wollte kostenlos einen Rat. Erst googelte sie, aber das war anstrengend und aufwendig. Sie hatte wenig Lust, die Probleme anderer Menschen zu lösen.
Ein neuer Account musste her. Sie surfte ein Weilchen herum und entdeckte Foren, mit speziellen Anliegen, aber auch Foren, in denen sich Menschen zwanglos austauschten. Breitgefächerte allgemeine Themen. Eines gefiel ihr besonders. Ein Frauenforum, neue Mitglieder konnten zunächst nur bestimmte Bereiche einsehen. Man musste sich bewähren, um aufzusteigen.
Magitta, 23 Jahre – Studentin der Zahnmedizin
Ihr Profilfoto sah zauberhaft aus. Eine Blondine mit Zöpfen, die in einem Park an einem Springbrunnen lehnte. Es gab viele zeitlose Bilder in ihren Flohmarktalben und das Gesicht konnte niemand erkennen. Zunächst verfasste sie einen kurzen Lebenslauf. Alleinstehend, in einer fremden Stadt studierend. Bei den Hobbys musste sie überlegen.
Sport fiel ihr ein. Im Trend lag joggen. Reisen und kochen gab sie auch noch an. Sie setzte Akzente, schrieb hier einen Satz, mischte sich in Diskussionen ein. Zeigte Anteilnahme und verhielt sich ansonsten ruhig und besonnen.
Es kann nicht schaden, dachte sie, wenn ich noch eine gute Freundin hinzufüge und sogleich erfand sie Sabine. Ich schreibe mir selbst, lachte sie. Keiner weiß, dass es uns nicht gibt. Manchmal zoffte sie sich mit Biene und andere ergriffen Partei. Ein unwirkliches Spiel, das ihr Spaß bereitete.
Es war wichtig, mit den richtigen Leuten befreundet zu sein. Die Angesagten, die bestimmten und den Weg wiesen. Man tauschte Mailadressen aus und als sie jemand nach der Handynummer fragte, gab sie sie bereitwillig. Whatsapp gehörte zum Austauschen dazu.
Nach ihrer Adresse fragend gab sie vage Antworten, im Umfeld von München, eine Studentenbude. Ein Übergang, bis sie das Studium beendete. Nach einigen Monaten durfte sie in einer geschlossenen Gruppe mitschreiben. Hier wurde Persönliches ausgetauscht. Probleme diskutiert. Endlich hatte sie es geschafft.
Im wahren Leben räumte sie morgens die Wohnung auf, kaufte ein und setzte sich an den Laptop. Am späten Nachmittag kochte sie und wenn ihr Mann nach dem Fernsehprogramm und der Fernbedienung griff, hatte sie den Laptop auf dem Schoß, um keinen Preis etwas verpassen.
Die geschlossene Gruppe wurde ihr zweites zu Hause. Der Admin schrieb ihr häufiger PNs und bekundete Interesse und Sympathie. Sie erfand ein völlig neues Leben und manchmal glaubte sie selbst daran. Biene rückte nach und um alles spannender zu gestalten, musste Biene krank werden. Brustkrebs, fortgeschrittenes Stadium, zu spät erkannt. Während der Chemotherapie kümmerte sie sich um Biene. Natürlich teilte sie alles, informierte sich im Internet über diese Krankheit und wusste kurze Zeit später bestens Bescheid.
Sie wurde bedauert, bekam liebevolle Post und wurde ständig gefragt, wie es ihr ginge. Da Biene ständig im Krankenhaus lag und nichts schreiben konnte, wurde nach ihr wenig gefragt. Grüße ausrichten sollte sie ab und zu.
Dieses Leben tat ihr gut. Sie fühlte sich euphorisch, dass sie Menschen belog, kam ihr nicht in den Sinn. Wenn sich manchmal das schlechte Gewissen rührte, beruhigte sie es mit dem Gedanken, andere machen das genauso. Endlich fand sie Bestätigung. Besonders schön war der erfundene Geburtstag. Virtuelle Glückwunschkarten und liebe Grüße, mit Herzchen geschmückt. Sie war beliebt und stand im Mittelpunkt.
Biene starb – sie konnte nur noch weinen und stellte fest, dass sie real trauerte. Die Beerdigung, den Blumenschmuck, die Worte des Pfarrers, sie erzählte ihren Freundinnen jedes Detail. Oft glaubte sie selbst Magitta zu sein, Studentin in München, 23 Jahre alt. Dass sie in Wirklichkeit in Hamburg lebte, auf die 60 zuging, entfiel ihr häufig. Wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie eine junge blonde Frau, die das Leben vor sich hatte. Oft verlor sie jeden Bezug zur Realität. Wenn sie das Laptop runterfuhr, wurde ihre farbige Welt schwarzweiß.
Ewig konnte sie nicht um Biene trauern und es mussten neue Probleme geschaffen werden. Ein Freund, der nicht treu war, der sie schlug und sogar vergewaltigte. Als jemand aufbegehrte und meinte, sie hätte viel Pech im Leben und das könnte man kaum glauben, bekam sie moralische Unterstützung. Die aufmüpfige Dame wurde aus der Gruppe entfernt und gesperrt.
Ein Forentreffen wurde angeboten. Einige Frauen übernahmen die Planung, arbeiteten ein Programm aus. Sie meldete sich auch an, um dann, so ihr Plan, kurz vorher abzusagen. Eine Krankheit, ein Unfall, der ihr hinterher wieder viel Anteilnahme brachte. Das Hotel konnte storniert werden, es entstanden keine Kosten.
Am nächsten Morgen hatte sie Zahnschmerzen. Der Termin ging schnell und es war Beeilung angesagt. Als Medizinstudentin kannte sie sich natürlich aus und musste bei dem Gedanken, trotz der Schmerzen lachen.
Die Straßenbahn erreichte sie knapp, rutschte auf den Stufen aus und knallte mit dem Kopf aufs Pflaster. Als sie in der Klinik erwachte, fragte sie ein junger Mann nach ihrem Namen, dem Wochentag und Wohnort.
„Magitta“, flüsterte sie, „es ist Montag und ich wohne in München, studiere Medizin.“
Der Sanitäter schüttelte den Kopf, schaute sich ihren Personalausweis an und tippte die Daten in ein Tablet.
„Eine leichte Gehirnerschütterung und ein paar Platzwunden, mehr Glück als Verstand“, sagte der behandelnde Arzt am nächsten Tag.
Sie bestand auf Magitta, wollte ihren Mann nicht sehen und fragte nach Biene. Nach einer Woche kam sie auf die Psychiatrische Station, fern von jedem Zugang ins Internet. Eine gute Langzeitprognose wurde bescheinigt, wenn sie bestimmte Auflagen einhielt. Dazu gehörte, dass sie vorläufig nicht ins Internet durfte. Schnell hatte man ihre gespaltene Persönlichkeit erkannt. Eine Therapie versprach völlige Heilung.
Im Forum geriet sie in Vergessenheit. Es dauerte nicht lange und jemand anders bekam den Prinzessinnenstatus.
Man sagt, dass das Internet nicht vergisst und doch geht es sehr schnell, dass ein Name, ein Profil, ein Leben der Vergangenheit angehört.