Schwarz ist keine Farbe
Geli Ammann August 2012
Sie hatte keine Angst mehr. Gerade hatte sie Michael nach Hause geschickt. Er wollte bei ihr bleiben, aber sie musste nachdenken. Die Nachtschwester brachte Tabletten, aber schlafen wollte sie noch nicht. Dazu war später Zeit. Auch wenn ihr Körper nicht mehr funktionierte, ihr Verstand war messerscharf und arbeitete auf Hochtouren. Es war erst ein gutes Jahr her……
Eine normale Vorsorge endete mit einer grenzwertigen Diagnose. Ein Knoten in der Brust, der sich als bösartig erwies. Der Termin in der Klinik, alles ging so schnell. Es blieb kaum Zeit zum Nachdenken und erst als sie aus der Narkose erwachte und ihr der Arzt erklärte wie es weitergehen würde, überfiel sie lähmende Angst. Der Tumor war besonders aggressiv und auch die Lymphdrüsen waren schon befallen.
Michael war sprachlos und so googelte sie, um abzuwägen wie groß ihre Chancen waren. Gedanken – warum gerade ich - gingen ihr durch den Kopf, aber sie schämte sich auch ein wenig, sollte jemand anders diese Krankheit bekommen. War es Schicksal oder eine ungesunde Lebensweise? Sie hatte immer ein wenig geraucht und ein Glas Rotwein am Abend gehörte auch dazu.
Auf den Urlaub hatten sie sich schon lange gefreut. Drei Wochen Frankreich, Aquitanien war immer ihr gemeinsamer Traum gewesen. Nach der Chemotherapie, die quälend lang schien und viele Nebenwirkungen zeigte, entschlossen sie sich doch loszufahren. Sie hatte ihre Haare verloren, das Schlucken tat weh und doch wollte sie fort. Trotz regte sich in ihr. Niemals würde sie aufgeben, sich nicht kampflos ergeben, nur weil eine Zelle in ihrem Organismus entartet und sie es zu spät bemerkt hatte.
Irgendwie hoffte sie, alles zurücklassen zu können. Die Krankheit blieb in Köln und würde dort warten. Es waren 1250 Kilometer bis Bayonne. Obwohl sie Kopfhörer auf den Ohren hatte und sich mit Musik beschallte, hämmerte die Diagnose immer noch laut - im eigenen Takt. Sie übernachteten in der Nähe von Paris und hatten dann ihr Ziel schnell erreicht. Das kleine Hotel Lostau war zauberhaft und entsprach genau ihren Vorstellungen, wenn da nicht immer dieser Gedanke gewesen wäre, der sie nie losließ. Nach außen funktionierte sie, aber innen pochte ihr Herz schmerzhaft gegen die Rippen.
Sie waren zwei Tage dort, als sie im Foyer das Prospekt entdeckte. Lourdes wurde als Tagestipp angeboten und sie schaute auf die Bilder. Niemals hätte sie eine Pilgerreise unternommen, denn religiös war sie nie gewesen, aber irgendetwas zog sie magisch an. Die innere Stimme wurde leiser und dieser Ort hatte geheimnisvolle Kräfte. Michael freute sich, dass sie aktiver wurde und so fuhren sie gleich am nächsten Tag los.
Edith Piaf sang im Radio - Non, je ne regrette rien – und leise summte sie mit. Sie war doch erst 40 und hatte viele Pläne. Endlich - nach einer Stunde Fahrzeit erreichten sie den Wallfahrtsort.
Ein Hinweisschild führte sie zum Place Peyramale und dort konnten sie den Wagen problemlos parken.
Ursprünglich war Lourdes mal ein kleiner Marktflecken gewesen, bis Bernadette am Ufer der Gave die Marienerscheinung hatte und egal ob es nun Legende oder ein Teil der Geschichte war, man spürte die Spiritualität deutlich. Sie liefen durch die Gassen bis sie zum Heiligen Bezirk kamen. Menschenmassen drängten sich über den ganzen Platz und es herrschte laute Betriebsamkeit.
Auf den ersten Blick sah man keine Traurigkeit, man spürte eher Hoffnung und Zuversicht. Viele kranke Menschen waren unterwegs, die genau wie sie etwas erwarteten. Aber auf ein Wunder hoffen und plötzlich geheilt sein, damit rechnete sicherlich niemand.
Endlich erreichten sie die Grotte von Massabielle wo 1858 Bernadette die schöne Dame gesehen haben will. Eine Figur erinnert daran. Michael schüttelte den Kopf. Er hielt das alles für Blödsinn und sie musste ihm im Stillen schon recht geben. Trotzdem hielt sie die Atmosphäre gefangen, denn ein unsichtbares Band knotete sie mit den anderen Pilgern fest zusammen. Es war als wenn eine verschworene Gemeinschaft sich heimlich Blicke zuwirft. Außenstehende konnte sie nicht deuten, sie nicht verstehen. Sie bemerken es nicht einmal.
Diese kleine Stadt in den Pyrenäen übte eine eigenwillige Faszination aus. Abends gab es noch eine kleine Lichterprozession und jedes Licht strahlte Wärme aus und ein ganz wenig Hoffnung. Es war ein Gefühl als wenn man sich auf den Geburtstag freut, ihn kaum erwarten kann und doch weiß, dass der Tag schnell vorbei ist und man wieder 364 Tage darauf hofft.
Sie entschlossen sich, die Nacht in Lourdes zu verbringen und stiegen im Hotel
Minotel Excelsior ab. Es hatte kleine zauberhafte Zimmer und zum ersten Mal nach dieser Diagnose fühlte sie sich Michael ganz nah. Er hielt sie fest und streichelte sie zärtlich. Ein Gefühl der Ruhe überkam sie, so dass sie schnell einschlief.
Am nächsten Morgen gingen sie durch die Gässchen des Ortes und mittags aßen sie in einem verträumten Restaurant. Sie schaute sich um. Keiner der Gäste schien krank zu sein, aber sah man ihr an, dass sie Krebs hatte? Sie spürte, dieses Wort war kleiner geworden. Noch einmal schlenderten sie zur Grotte und wenn sie in die Gesichter anderer Pilger schaute, dann sah sie zwar auch oft das Elend und die Not, aber die Augen strahlten hell und voller Zuversicht.
Den Rest des Urlaubs verbrachten sie so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Sie fuhren nach Pamplona erkundeten die Gegend und schwammen im Meer. Während der Autofahrt nach Deutschland dachte sie viel über Lourdes nach. Es waren nicht nur kranke Menschen dort gewesen, auch Jugendgruppen, die die Ökumene pflegen wollten und sich dort mit anderen trafen. Ein multikulturelles Treiben, den Glauben spüren und ein Stück davon mit ins eigene Leben integrieren. Wie eine große Familie, die sich nach langer Zeit trifft und Gemeinsamkeiten austauscht. Nach Hause kommen, ankommen und nie mehr fortgehen.
In den eigenen vier Wänden lief alles seinen gewohnten Gang. Ihre Werte waren schlecht, die nächste Chemotherapie stand an und sie war ständig müde. Die Knochen schmerzten und ihre Hoffnung sank.
Als sie auf die Uhr schaute, bemerkte sie, dass der neue Tag schon begonnen hatte. Warum war ihr diese Geschichte wieder eingefallen. Sie wollte auch ankommen und nicht mehr fort müssen. Gestern hatte sie mit dem Arzt gesprochen, der ihr Alternativmethoden vorgeschlagen hatte. Viel Hoffnung konnte er ihr nicht mehr machen. Die Krankheit hatte die Macht übernommen und führte Regie. Sie würde nachher mit Michael sprechen und er sollte sie mit nach Hause nehmen.
Nach Hause - mit diesem Gedanken schlief sie ein.