Lüge und Wahrheit
Vor langer Zeit lebten in einem kleinen Garten die Lüge und die Wahrheit zusammen. Es war immer Sommer und die Blumen blühten in Hülle und Fülle. In der Luft summten die Bienen, dass es eine Freude war. Die Wahrheit war sehr zart und von anmutiger Gestalt, die Lüge hingegen robust und kräftig. Oft spielten sie verstecken. Wenn die Wahrheit sich hinter einen Busch kauerte und so nicht gesehen wurde, dann rief die Lüge laut nach ihr und sie gab sich zu erkennen, denn sie war ehrlich und offen. Die Lüge hingegen versteckte sich so geschickt und führte die Wahrheit oft an der Nase herum. Redete auf sie ein und konnte so subjektiv einen falschen Eindruck aufrechterhalten, den die Wahrheit niemals bemerkte.
So lebten sie lange in Eintracht. Sie kannten sich genau und auch wenn die Wahrheit die Lüge nicht durchschaute, so liebten sie sich doch von Herzen. Jeden Tag tollten sie durch ihren Garten, sprangen über Büsche und Hecken und ließen sich von der Sonne kitzeln. Die Lüge erzählte viele Geschichten und die Wahrheit hörte staunend zu. Sie glaubte jedes Wort und war oft traurig, weil sie nicht so schöne Dinge erlebt hatte. Selber kannte sie nur ihre Träume, die die Lüge zwar verzauberten, aber sie lachte die Wahrheit trotzdem nur aus.
Viele Jahre vergingen und die Lüge log, dass sich die Balken bogen, während die zarte Wahrheit nur stumm daneben saß. Wieder einmal tollten sie durch den Garten und waren ausgelassen. Doch die Wahrheit passte nicht auf und rutschte in den kleinen Seerosenteich. Das Ufer war etwas glitschig und uneben, so dass sie nicht wieder herausklettern konnte. Voller Angst plantschte sie im Wasser herum, denn sie konnte nicht schwimmen. Laut rief sie die Lüge um Hilfe, die mit listigem Blick am Ufer stand.
„Ich kann dir nicht helfen,“ sagte die Lüge mit lauter Stimme „sonst rutsche ich selber hinein, damit ist keinem geholfen.“ Lauernd schaute sie zu wie die Wahrheit um ihr Leben kämpfte. Immer wieder schlug das Wasser über ihrem Kopf zusammen und sie bekam kaum noch Luft.
Mit letzter Kraft rief die Wahrheit:“ Reich mir doch deine Hand, denn sonst muss ich sterben und du bist ganz allein.“
Da erschrak die Lüge und alle Leichtigkeit fiel von ihr ab. Sie wollte nicht allein bleiben. Wem sollte sie all ihre Lügengeschichten auftischen. Außerdem bewunderte sie die Wahrheit im Geheimen ein wenig, denn sie glaubte alles was man erzählte und vertraute ihr blind. Diese Empfindungen kannte sie nicht.
Schnell griff sie ins Wasser und zog die erschöpfte Wahrheit in letzter Sekunde ans Ufer. Es war so leicht gewesen auf sie zu hören und zu helfen. Dankbar blickte die Wahrheit der Lüge in die Augen.
So wurde die Wahrheit durch die Lüge gerettet.
Geli Ammann 2014