Heimweh

 

 

 

Hamburg 2014

Hamburg Hauptbahnhof – die Türen öffnen sich und Tim springt aus dem ICE auf den Bahnsteig. Einen Augenblick bleibt er stehen, dann wirft er sich seinen Seesack über die Schultern und stapft mit schnellen Schritten Richtung Ausgang. Bunte Tannenbäume zeigen, dass das Fest der Liebe vor der Tür steht. Es ist der 23. Dezember. Auf dem Bahnhofsvorplatz bleibt er stehen, zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief. Ist es wirklich sechs Jahre her, dass er im Zorn gegangen ist.

Hamburg 2008

Missmutig schaut Tim aus dem Fenster. Seine Schwester Helka hat es abgelehnt, die Geburtstagsfeier für ihn auszurichten. Die letzten Tage hat sie ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er alt genug sei, sich seine Feier selber zu finanzieren, von ihrem Nachtdienst im Krankenhaus mal ganz abgesehen. Wütend trommelt Tim mit den Fingerspitzen auf dem Tisch. Nächste Woche werde ich 18, warum zeigt sich Helka so engstirnig, denkt er.

Wenn die Eltern doch noch lebten, denkt er. Wehmut beschleicht ihn. Warum haben sie damals nicht das Auto genommen?

Sie wollen schön gemütlich den Heideurlaub ausklingen lassen und sind mit dem ICE Konrad Wilhelm Röntgen Richtung Hamburg gefahren. Sein Vater hatte er ihm erklärt, dass die Züge nach bekannten Persönlichkeiten benannt werden.

Helka hat zu diesem Zeitpunkt die Schule mit einem glänzenden Abitur abgeschlossen. Vor einigen Tagen kam der Brief mit der Zulassung zum Medizinstudium. Heidelberg, das ist ihr Traum. In wenigen Wochen wird sie nach Süddeutschland in eine kleine eigene Wohnung ziehen.

Hamburg 1998

Während die Eltern ihren Hochzeitstag in der Heide feiern, versorgt Helka das Haus. Tim liebt seine Schwester, die zehn Jahre Altersunterschied stört die Beiden kaum.

Irgendwann am Nachmittag klingelt das Telefon und Helka hält wie versteinert den Hörer in der Hand. Die Eltern sind bei dem Zugunglück in Eschede ums Leben gekommen. Tim kann es nicht glauben. Am Morgens hat er noch mit der Mutter telefoniert, die ihm ein Mitbringsel versprach. Sie war nicht tot.

Dezember 2014

Tim tritt die Zigarette aus. Ein Weihnachtsmann läuft an ihm vorbei und die Innenstadt, die vor ihm liegt, zieren bunte Lichterketten. Es riecht nach Erinnerung.

 Juni 1998

An die Zeit nach dem Unfall kann er sich kaum erinnern. Fremde Menschen kommen ins Haus, die ihn mitnehmen wollen, aber Helka hat es nicht zugelassen. Dann die Beerdigung. Zwei Särge in der Kapelle. Alles voller Blumen. In der Hand die Maiglöckchen. Lieblingsblumen seiner Mutter. Geweint hat er später, der Schock sitzt tief. Großeltern oder andere Verwandte gibt es nicht, aber seine Schwester verspricht ihm, dass sie zusammenbleiben, egal was passiert. Aus Heidelberg wird Hamburg. Helka hat Glück und kann problemlos wechseln. Sie beziehen gemeinsam eine kleine Wohnung. Geld ist kaum vorhanden, denn der Vater hat in seiner Selbstständigkeit nicht daran gedacht, vorzusorgen. Das Leben ist von einem auf den anderen Tag völlig anders.

Er geht in die Grundschule, danach in den Hort. Helka studiert und jobbt noch nebenbei bei einer bekannten Fastfoodkette. So langsam gewöhnen sie sich daran, ohne die Eltern zu leben

 Dezember 2014

Zögerlich geht Tim Richtung Innenstadt. Er sucht ein Internetcafé. Es ist unglaublich, er besitzt weder Handy noch Laptop, aber das ist freiwillig gewählt. Er hat mit seinem alten Leben abgeschlossen und wollte lange keinen Kontakt. Lebt Helka überhaupt noch in Hamburg? Er ist damals überstürzt fortgelaufen. Nur eine kurze Nachricht hat er hinterlassen. Heute schämt er sich für sein Verhalten.

Hamburg 1998

Das erste Weihnachtsfest ohne die Eltern. Die Zeit verrinnt. Tims Noten in der Schule sind nicht besonders und Helka hat selten Zeit. Nachtdienste stehen an. Oft kommt jemand vom Jugendamt vorbei und unterhält sich mit ihm. Alles ist in Ordnung, zumindest oberflächlich. Die Gefühlswelt interessiert die Behörde wenig.

In der Pubertät schwänzt er die Schule, raucht und trinkt Alkohol. Er wiederholt eine Klasse, fängt sich ein wenig, aber sein Seelenschmerz sitzt tief. Tim denkt nur an sich, dass Helka ihr Leben nach ihm richtet, auf ihren Freund verzichtet, das sieht er nicht. Sie versucht Mutter und Vater zu ersetzten. Immer wieder predigt sie – Du sollst, Du musst – er kann es nicht mehr hören.

Endlich hat er sein Abitur in der Tasche. Fast zeitgleich hat Helka ihren Abschluss und arbeitet im Krankenhaus. Sie will Kinderärztin werden und braucht dazu noch ihren Facharzt. Die Promotion steht noch aus und Tim fühlt sich zurückgesetzt. Nicht einmal seinen 18. Geburtstag gönnt sie ihm.

Dezember 2014

Junge Musiker spielen in der Fußgängerzone festliche Musik und Tim sucht in seinen Taschen nach ein paar Münzen. Sie bedanken sich freundlich. Spielen für ihn Jingle Bells. Aus dem Grau des Himmels fallen erste Flocken. Die Menschen um ihn herum sind in Festtagslaune, nur er fühlt sich als Außenseiter. Ein Kokon aus Trauer, Angst und Heimweh hält ihn umfangen. Endlich entdeckt er ein Internetcafé.

Hamburg 2008

Er hat mit seinen Freunden die ganze Nacht gezecht. Helka ist wieder einmal nicht zu Hause. Sie hat ihm zum Geburtstag den Führerschein finanziert. Er will ein Auto, aber dafür ist natürlich kein Geld vorhanden. Völlig verkatert und voller Selbstmitleid schaut er auf die leeren Gläser und Flaschen. Hastig schreibt er ein paar Zeilen auf einen Zettel, packt seinen Rucksack. Die Wohnungsschlüssel legt er in die kleine Schale im Flur und verschwindet.

Auf dem Zettel steht: Ich kann so nicht mehr leben. Diese Zwänge halte ich nicht aus. Ich bin volljährig und kann tun und lassen, was ich will. Mein Weg ist ein anderer als Deiner. Leb wohl.

Dezember 2014

Die Suchmaschine ergibt viele Treffer, aber ihn interessiert nur die Adresse, die er auf ein Stück Papier schreibt. Wie wird sie reagieren, wenn er plötzlich an der Tür klingelt? Entschlossen sucht er sich die richtige S-Bahn-Linie, löst ein Ticket und fährt seinem Schicksal entgegen.

Hamburg 2008

Ein Freund hat ihm erzählt, dass sie im Hafen junge Männer suchen. Schlecht bezahlte Aushilfsarbeiter für niedere Arbeiten. Seinen Reisepass hat er dabei und so fährt er zum Hafen und am nächsten Tag Richtung Südamerika. Seine Traurigkeit, den Verlust der Eltern und Helka, alles bleibt in Hamburg zurück.

Dezember 2014

In den beschlagenen Scheiben der S-Bahn spiegelt sich sein Gesicht undeutlich. Die Zeit ist nicht einfach, aber die körperliche Arbeit hat ihn vergessen lassen und seiner Seele Stabilität gegeben. Natürlich hat er oft an Helka gedacht, aber sein Stolz hat es nicht zugelassen, ihr zu schreiben. Seine Reisen haben ihn oft in die Nähe von Hamburg geführt, aber niemals hat er das Hafengelände verlassen. Seine Scham war groß. Auch Helka hat unter dem Verlust der Eltern gelitten. Sie hat ihm Flügel gegeben, aber er wollte damals nicht fliegen. Er klebt am Boden in seinen eigenen Mustern, seinem eigenen Selbstmitleid.

Vor ein paar Wochen ist er in einer alten Zeitung auf Helkas Namen gestoßen. Sie hat sich als Medizinerin einen Namen gemacht. Ob sie allerdings noch in Hamburg lebt, konnte er dem Artikel nicht entnehmen. Er hat plötzlich solche Sehnsucht verspürt und sich entschlossen, zurückzukommen.

Es ist eine schöne Wohngegend. Sie ähnelte dem damaligen Elternhaus. Vorgärten mit weihnachtlicher Beleuchtung. Geschmückte Straßen und leise hörte er Musik und Kinderlachen. Endlich steht er vor dem Haus. Durch die hohen Fenster kann Tim einen geschmückten Baum erkennen. Alles strahlte vor Zufriedenheit und Vorfreude.

Über der Haustür hängt eine Tannengirlande und auf dem kleinen Messingschild neben der Haustür steht:

Hier wohnt Familie Clausen. Daneben ein Praxisschild. Kinderärztin Dr. Helka Clausen.

Sie hat das geschafft, was sie sich vorgenommen hat Es ist ein eigenartiges Gefühl. Als wenn in seiner Brust etwas auftaut, was dort viel zu lange im Eis jedes Gefühl erdrückt.

Langsam hebt er die Hand, zögert einen Augenblick und drückt den Klingelknopf.

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