Die Türen gehen lautlos auf, eine nüchterne Zelle. Stahlwände und ein schäbiger PVC-Fußboden. Mein Blick schweift durch die Kabine .Ich suche das Nummernfeld. „Oh mein Gott“, denke ich, „ wie viele Menschen, denen es wohl bedeutend besser geht als mir, haben dieses heruntergekommene Fortbewegungsmittel vor mir benutzt. Widerlich!“. Ich steige ein und blicke zur sich schließenden Tür. Wie war ich nur in diese Situation gekommen. Wenn ich zurückdenke, ich war immer und überall die Beste gewesen. Abitur mit Einserschnitt. Studium mit Bestnoten, und nun das. Schon wieder eine Absage, schon wieder keine Chance.
Ein Geräusch. „Was ist das?“ Die Tür öffnet sich. Ein Mann tritt in den Aufzug. Er trägt einen Anzug. Ein flüchtiger Blick. Ein erfolgreicher Geschäftsmann.
Ich sinke zurück in mein Selbstmitleid. Der Mann im Anzug sagt irgendetwas. Ich sehe seine Lippenbewegung. Aber im Grunde ist es mir egal.
Ein Ruck geht durch die Kabine. „Endlich fährt das Ding los“. Wäre der Mann nicht eingestiegen, wäre ich jetzt schon wieder im Erdgeschoss. Wäre raus aus diesem Gebäude. Dieser Hölle, die keine Hoffnung für mich bereithielt.“
Ein erneuter Ruck. Wir stehen. „Was ist los?“. Ganz plötzlich bin ich wieder da. Kein Gedanke mehr an Selbstmitleid. Ich stehe in dieser kalten Kabine mit einem völlig Fremden. Wir sind stecken geblieben.
Mein Blick fällt auf den Mitfahrer. Ich mustere ihn genau. Den erst als erfolgreichen Geschäftsmann eingestuften Begleiter packe ich nun eher in die Kategorie >erfolglos und gescheitert<. Unrasiert, ungekämmt. In der Luft liegt ein Geruch von Schweiß und billigem Fusel. „Oh Gott, das kommt von ihm!“. Er blickt mich an. Ein gequältes Lächeln huscht auf mein Gesicht. „Wir sind wohl stecken geblieben“, sagte er. „Blitzmerker, als ob ich das nicht auch wüsste“, denke ich. Ich bin entnervt. „Ach, das ist die Krönung. Immer wenn man denkt, es kann nicht mehr schlimmer kommen, kommt es dicker“. Er haucht es, kaum hörbar, während er abgewandt zur Tür des Aufzugs blickt. Er schlägt gegen die Wand. „Dies‘ verdammte Ding.“ Er geht in die Hocke, schlägt die Hände vor‘s Gesicht. Ich kann ihn schluchzen hören. Er nuschelt etwas. Es ist nicht zu verstehen. Ich lege meine Hand auf seine Schulter. „Ich muss etwas Aufmunterndes sagen“. „Aber was? Irgendeine Floskel. Sowas wie, Kopf hoch. Morgen ist ein neuer Tag. Sowas will man doch hören oder? Würde ich sowas hören wollen? Ich denke schon!“. Ich habe diese Worte noch nicht ausgesprochen, da steht er wieder auf. Allein das Handauflegen scheint im wieder Kraft gegeben zu haben. Er dreht sich um. Blickt mich an. Verwundert starre ich ihm in seine Augen. Danach schweift mein Blick auf seinen Mund. „Ich hatte so viel Potenzial“, sagte er. „Aber mir gibt keiner mehr eine Chance!“ Das sind meine Worte, die aus seinem Mund kommen. Er spricht aus, was ich denke. Mein Leid, meinen inneren Konflikt. Langsam schweifen meine Gedanken wieder ab. Das Selbstmitleid ist wieder präsent.
„Ich komme gerade von einem Bewerbungsgespräch.“ , seine Worte holen mich wieder in das Hier und Jetzt. „ Ich auch!“, entgegne ich. „Ich weiß wie sie sich fühlen.“ „Meinen sie?“, sagt er. „Ja das meine ich“, meine Worte wirken so patzig, dass es ihm ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Das Lächeln eines Gleichgesinnten kann Ungeahntes bewirken. Das Gefühl des Versagens. Es ist so eben ein bisschen geschrumpft. Dieses scheint er auch bemerkt zu haben. In seinen Augen sehe ich, dass es ihm schon besser geht. „Endlich mal ein Gleichgesinnter. Nicht immer diese gleichen, gekünstelten Gewinnertypen“, sagt er. Diese Worte lassen mich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder klar denken. „Ich bin nicht allein. Die Welt ist voller Verlierer! Die Gesellschaft erzieht uns zu Maschinen. Immer pünktlich. Immer perfekt. Kein Platz für Fehler.“ Ich denke dieses. Ich sage es nicht laut. „Er denkt das Gleiche! Ich weiß es einfach! Es geht ihm wie mir!“
Krach. Ein Ruck. Der Fahrstuhl bewegt sich. Wir fahren bis ins Erdgeschoss. Die Tür öffnet sich! Mein Blick fällt geradewegs auf die große Uhr. 6 Uhr morgens. „Waren wir die ganze Nacht in diesem Ding?“ Ich gehe in die Freiheit. Ich bewege mich auf den Ausgang zu. Plötzlich halte ich inne. Ich blicke mich um. „Wie heißen sie eigentlich?“, frage ich den Mann. Er geht dicht hinter mir. „Jakob“, sagt er. „Danke, Jakob!“, entgegne ich.